Tongeschlechter (genera musica) nach Leonhard Euler
Im Jahre 1739 schrieb der Schweizer Leonhard Euler, einer der größten Mathematiker aller Zeiten, in Sankt-Peterburg ein musiktheoretisches Werk:
Tentamen novae theoriae musicae (Versuch einer neuen Musiktheorie).
http://eulerarchive.maa.org/backup/E033.html
In dieser Arbeit entwickelte er - ausgehend einerseits von der physikalischen Erklärung von Klängen und andererseits von philosophischen Überlegungen zur Wahrnehmung von verschiedenen Graden der Ordnung - eine eigene zahlentheoretische Beschreibung musikalischer Systeme:
Erstens können alle (insbesondere die natürlichen) Zahlen durch die Beziehung zur Frequenz eines Tones selbst als Töne aufgefasst werden.
Diese Töne/Zahlen stehen in bestimmten unterschiedlichen Verhältnissen zueinander, die als Intervalle wahrgenommen werden. Die Multiplikation eines Tons (=einer Zahl) mit 2 ergibt z.B. den um eine Oktav höheren Ton, die Multiplikation mit 2n den um n Oktaven höheren Ton.
Innerhalb einer Oktav kann man Zwischentöne nach folgendem Verfahren finden, es ergibt sich ein "genus musicum" (Tongeschlecht):
Definiert wird zunächst 2m·A, die Darstellungszahl ("numerus exponens") des Tongeschlechts.
Mit Hilfe der Primfaktorzerlegung erhält man die Teiler der (ungeraden) Zahl A.
Alle Teiler von A ergeben die Töne des Tongeschlechts.
Damit alle Töne innerhalb einer Oktav liegen, werden sie mit geeigneten Potenzen der 2 multipliziert.
Dabei erhält man z.B. durch die Primzahl 3 reine Quinten (mit dem Frequenzverhältnis 3/2) und durch die Primzahl 5 große Terzen (mit dem Frequenzverhältnis 5/4).
Euler erstellt im achten Kapitel seines "Tentamen" folgende Liste von Tongeschlechtern und deren Darstellungszahlen:
genus I. | exponens 2m |
genus II. | exponens 2m·3 |
genus III. | exponens 2m·5 |
genus IV. | exponens 2m·32 "Ältestes Tongeschlecht des Merkur" |
genus V. | exponens 2m·3·5 |
genus VI. | exponens 2m·52 |
genus VII. | exponens 2m·33 |
genus VIII. | exponens 2m·32·5 |
genus IX. | exponens 2m·3·52 |
genus X. | exponens 2m·53 |
genus XI. | exponens 2m·34 |
genus XII. | exponens 2m·33·5 "korrigiertes diatonisch-syntonisches Tongeschlecht des Ptolemäus" |
Euler erkennt, dass man hier eine diatonische Skala erhält, wenn man den Ton 33·5 auslässt und die Töne 2m als F, 2m·3 als C, 2m·32 als G, 2m·33 als D, 2m·5 als A, 2m·3·5 als E und 2m·32·5 als H bezeichnet. |
genus XIII. | exponens 2m·32·52 "korrigiertes chromatisches Tongeschlecht" |
genus XIV. | exponens 2m·3·53 "korrigiertes enharmonisches Tongeschlecht" |
genus XV. | exponens 2m·54 |
genus XVI. | exponens 2m·35 |
genus XVII. | exponens 2m·34·5 |
Ein eigenes (das neunte) Kapitel beschreibt das XVIII. Tongeschlecht:
genus XVIII. | exponens 2m·33·52 "diatonisch-chromatisches Tongeschlecht" |
Dieses Tongeschlecht besteht aus 12 Tönen. Die Abstände von aufeinander folgenden Tönen sind darin alle ähnlich groß (Semitonia und Limmata), dadurch eignet es sich besonders gut für Transpositionen. Laut Euler ist es das zu seiner Zeit allgemein meistverwendete Tonsystem. Euler betont, dass es bemerkenswert und ein Beleg der Wahrheit seiner Theorie sei, dass dieses von ihm durch zahlentheoretische Überlegungen gefundene System durch ausübende Musiker:innen allein durch ihre Erfahrung entwickelt wurde. Die einzige Abweichung bestehe nämlich beim Ton B, den Euler in seiner Theorie als 2m·33·52, also als große Terz zu Fs (2m·33·5) definiert. Er zitiert an dieser Stelle Johann Matthesons „Große General-Baß-Schule“.
Das zehnte Kapitel beschreibt "weitere komplexere Tongeschlechter":
(genus XIX.) | exponens 2m·32·53 "chromatisch-enharmonisches Tongeschlecht" |
(genus XX.) | exponens 2m·33·53 "diatonisch-enharmonisches Tongschlecht" |
In den letzten beiden Geschlechtern treten infolge der 3. Potenz von 5 (125) einige Paare von Tönen auf, die sich nur um ein kleines Intervall (128/125 = 27/53) unterscheiden. (In den heute gebräuchlichen Bezeichnungen durch Centmaße sind das ca. 41 Cent, also etwas weniger als ein "Viertelton".)
(genus XXI.) | exponens 2m·37·52 |
Das syntonische Komma 81/80 (= 34/(24·5)) ist nahe der 1 (5·24 ≈ 34), gleichbedeutend ist auch (3/2)4 ≈ (5/4)·22 (4 Quinten sind ähnlich einer Terz plus 2 Oktaven), daher ergeben sich in diesem Tongeschlecht 8 Paare von ähnlichen Tönen. Außerdem sind in Folge 4 Quinten plus 2 Terzen ähnlich 2 Oktaven plus 3 Terzen , und das ist wiederum ähnlich 3 Oktaven: (3/2)4·(5/4)2 ≈ 22·(5/4)3 ≈ 23, 34·52 ≈ 24·53 ≈ 211, 2025 ≈ 2000 ≈ 2048, und daher ergeben sich 4 weitere Paare von ähnlichen Tönen. Die Abstände der infolge der Potenzen der 3 dazugekommenen Töne zu den Haupttönen des diatonisch-chromatischen Tongeschlechts (81/80, 2048/2025) betragen nur rund 20 Cent. Deswegen kann man laut Leonhard Euler auf Tasteninstrumenten problemlos statt der Nebentöne die Haupttöne verwenden.
(genus XXII.) | exponens 2m·33·55 |
Die 12 Nebentöne dieses Tongeschlechts haben von den Haupttönen den Abstand 128/125, das entspricht 41 Cent. Deswegen wäre es laut Leonhard Euler für die Wiedergabe dieses Geschlechts günstig, in jeder Oktav eine Skala mit 24 Tönen zu verwenden, die ungefähr gleiche Schritte aufwiese.
(genus XXIII.) | exponens 2m·33·52·7 |
Auch in diesem Tongeschlecht ergeben sich Paare von nur um ein sehr kleines Intervall entfernten Tönen, da durch Multiplikation mit 7 eine (sehr) kleine Septim entsteht, die Naturseptim aus der Obertonreihe (7/4).